Inanna

Mein Weg war von Anfang an vorgezeichnet. Man hatte mir von Anfang an beigebracht, dass ich vernünftig sein musste, brav sein musste, zu tun hätte, was man mir sagte, da ich schließlich eines Tages heiraten und meines Vaters Firma übernehmen werde.

Natürlich hatte ich alles von der Pike auf gelernt. Ich kannte jede Abteilung der Firma, wusste über alle Vorgänge genau Bescheid. Kannte alle MitarbeiterInnen, wusste, welche verliebt war oder schwanger, und wer seine Frau mit wem betrog. Mein Vater und später auch mein Mann belächelten mich für die Energie, die ich für solcherlei Informationen aufwandt, aber zugute kam es ihnen doch. Jedenfalls gab es kaum Probleme mit dem Personal - Welche Chefin wusste schon von jedem der über 200 Angestellten, wie er oder sie den Kaffee mochte?

Zur Hochzeit überschrieb mir Vater 49 % der Firma. Als er starb, bekam ich den Rest, mit der Auflage, meinen Mann zum Geschäftsführer zu machen - ich sollte mich als Präsidentin der Firma mehr den repräsentativen Aufgaben zuwenden. Und meinem Mann einen Sohn schenken, damit die Firma einen würdigen Nachfolger bekäme. Mein Vater hatte alles bedacht.

Meine Mutter starb schon, als ich noch ziemlich klein war. Ich konnte mich kaum an sie erinnern. Mein Vater hatte mir damals gesagt, sie hätte Krebs. Und das würde bedeuten, dass etwas sie von innen auffressen würde.

Ich kam also unter die strenge Fittiche meines Vaters und wurde fortan als seine Nachfolgerin erzogen. Oder eher als die Frau seines Nachfolgers? Jedenfalls hatte mich der Tod meines Vaters ein bisschen aus der Bahn geworfen. Zum ersten Mal war er nicht mehr da, um mir zu sagen, was ich tun sollte. Was richtig oder falsch war. Er hatte Vertrauen in meinen Mann und hatte keine Bedenken, dass er an meines Vaters statt fortan die richtigen Entscheidungen treffen würde. Aber ich fühlte diese Leere, die größer war als der Tod meines Vaters. So als hätte mein Vater all die Jahre ein Loch verdeckt, eine tiefe Wunde, die nun durch sein Verschwinden zum Vorschein gekommen war.

Als ich die Sachen von Vater auf den Speicher räumte, fand ich eine alte Kiste mit Spielsachen. Und plötzlich fiel es mir ein. Sie fiel mir wieder ein: meine Schwester. Wie konnte ich sie nur vergessen haben? Eines Tages war sie weg. Es war ungefähr, als Mutter gestorben war. Vermutlich hatte Vater es mit uns beiden nicht ausgehalten. Und hatte sie weggegeben. Fragen konnte ich ihn jetzt nicht mehr. Ich erinnerte mich an sie. Sie hatte vor nichts und niemanden Angst. Wo ich davonlief, griff sie an. Sie war nie pünktlich zu Hause und nie, niemals ließ sie sich irgend etwas gefallen. Von den großen Jungs aus der Nachbarschaft nicht. Von Vater nicht. Sogar den Pfarrer brachte sie mit ihren Fragen in Verlegenheit.

Ich erklärte meinem Mann, dass ich meine Schwester suchen müsse und er meinte nur, ich sollte mir Zeit lassen. Er hätte alles im Griff. Also zog ich ein nettes Kostüm an und machte mich auf den Weg. Ich kam bald zu einer Tür; sie stand mitten im Park und machte überhaupt keinen Sinn, aber ich wusste, dass ich richtig war. Höflich klopfte ich an, und als nach kurzem Warten immer noch kein Laut von innen kam (und es mir abwegig erschien, dass das daran liegen könnte, dass es bei einer einzeln stehenden Tür vielleicht kein “innen” gab), öffnete ich vorsichtig.

Ich war in der Unterwelt. Obwohl ich vorher nie dort war, und ich keine Ahnung davon hatte, so wusste ich sofort, als ich über die Schwelle ging, wo ich war. Hier sollte meine Schwester sein? Hatte mein Vater meine Schwester zum Teufel gejagt? “Nein, meine Liebe, hier regiere ich!” Eine tiefe, aber weibliche Stimme antwortete auf meine Gedanken. Zu dieser Stimme gehörte eine wild aussehende Dunkle Frau auf einem Thron aus allerlei Knochen. Sie musterte mich von oben bis unten, schnippte dann mit dem Finger, was zur Folge hatte, dass ich quer durch den Raum flog und hart auf dem Boden landete. “Warum tust du das?” fragte ich sie verblüfft. “Eben darum!” kam die Antwort. “Jetzt weiß ich warum du hier bist.”

“Kennst du meine Schwester? Woher weißt du..?” Aber weiter kam ich nicht. “Er hier wird sich um dich kümmern!” Unterbrach sie mich und zeigte auf einen grimmig schauenden Mann, der auf mich zu kam. Nun ging alles ziemlich schnell. Ohne jede Warnung schlug er auf mich ein; ich wusste nicht, warum: niemand gab mir irgend eine Erklärung, nur das Lachen der Finsteren Frau im Hintergrund. Er schlug mich und zerrte mich an den Haaren zu einem Felsvorsprung. Mein Kostüm war schmutzig und zerrissen, Schuhe hatte ich inzwischen keine mehr an. Er riss mir die restliche Kleidung mit einem Ruck herunter und warf mich bäuchlings über den Felsen. Was nun kam, war schlimmer als alles, was ich mir vorstellen konnte. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er meine Handgelenke auf den harten Stein und gab mir keine Möglichkeit des Auskommens. Brutal verging er sich an mir und ich fühlte mich dreckig, gedemütigt, verletzt. Geschändet. Als er endlich von mir abgelassen hatte, glitt ich kraftlos von dem Felsvorsprung herunter und sank in einer Ecke zusammen. Ich wimmerte vor mich hin und ergoss mich in meinem Leid. Meine Schwester wollte ich suchen, meine Eltern hatte ich verloren. In der Welt da oben war ich eine Geschäftsfrau und hier, jetzt? Ich fühlte mich so hundeelend, so verlassen und einsam. Mein Körper war purer Schmerz und jede einzelne Träne trug all diesen Schmerz in sich.

Der Mann lachte mit der Dunklen Frau um die Wette. Es dröhnte in meinen Ohren, dieses höhnische Gelächter und ich fühlte mich noch schlechter, noch besudelter - mir wurde regelrecht übel.

“So willst du deiner Schwester unter die Augen treten? Du meinst, nach all den Jahren will sie mit dir Jammerlappen etwas zu tun haben? Als hätte sie ausgerechnet auf dich gewartet, damit du ihr ein Klotz am Beim wirst? Ist es das, was du von ihr willst? Willst du dich hinter ihr verstecken, jetzt wo dein Daddy nicht mehr da ist?” Diese Frau wollte mich offenbar noch mehr verletzen. Ich hatte ihr doch nichts getan. Warum sagte sie solche gemeinen Sachen zu mir? “Du wimmerndes Häuflein Elend! Deine Schwester hat dich längst vergessen. Du hast dich all die Jahre nicht um sie gekümmert, es war dir völlig egal, was aus ihr geworden ist. Weißt du was? Sie hat gesagt, solltest du je hier auftauchen, dann darf ich dich quälen so lange und so oft ich will!” stichelte das Miststück weiter.

“Das ist nicht wahr!” platzte es aus mir heraus. Ich rappelte mich hoch und stürzte auf sie zu. “Gratuliere, du kannst ja doch noch aufrecht gehen. Aber geh nicht auf mich los. Ich hab dir nichts getan. Oder willst du ihn davonkommen lassen?” Die Frau war die Ruhe selbst. Oder fiel mir das in dem Moment nur deshalb auf, weil ich plötzlich so wütend war? Was bildete sich dieser Typ überhaupt ein? Ich spürte dieses unglaubliche Wut auf einmal in mir hochkommen - sie brach aus mir heraus wie ein Vulkan ausbricht. Sicher war ich auch wütend auf mich selber, dass ich mir das überhaupt hatte gefallen lassen. Aber war das ein Grund, auf mich loszugehen: Nur weil ich es mir gefallen ließ!

Ehe der Mann wusste wie ihm geschah, hatte ich ihn umgerannt. Nun ging ich auf ihn los, ich schlug auf ihn ein, dort wo es ihm besonders weh tat und ich war erstaunt, wie viel Kraft ich in meine Fäuste legen konnte. Er wollte sich wehren, ich sprang auf seinen Arm, der hörbar knackte. Der Mann schrie und wurde nun seinerseits wütend. Jetzt ging der Spaß erst richtig los und je angriffslustiger er wurde, desto wütender wurde ich. Er hatte keine Chance. Alle Wut, alles verletzt-sein, alles, was ich in den vergangenen Jahren geschluckt hatte, schleuderte ich ihm nun entgegen. Ich wusste bis zu dem Moment gar nicht, was sich da alles im mir aufgestaut hatte. Und ich werde niemals die Wut vergessen, die ich in diesem Moment gespürt hatte. Ich war eine Löwin. Ich brüllte wie eine, fühlte wie eine, kämpfte wie eine. Irgendwann blieb der Mann reglos liegen und die Dunkle Frau meinte nur trocken, dass ich gewonnen hätte.

Ich atmete heftig und war gleichermaßen schockiert und stolz. Was hatte ich getan? Und warum hatte ich das nicht schon eher getan? Ich war glücklich, dass ich mich endlich befreit hatte. Ja, genau so fühlte ich mich: befreit. Ich blickte der Frau tief in die Augen und sie lächelte und meinte, dass ich nun meine Schwester sehen könne. Sie deutete mit dem Kopf auf die Seite und ich drehte mich um und da stand sie: Meine Schwester!

Ich hätte sie unter tausenden wieder erkannt. Sie war regelrecht verwildert in der Zeit hier unten, war mit Wunden und Kratzern übersät, ihre Haare waren wirr und zerzaust und ihre Kleidung - sofern es jemals eine war - hing in Fetzen von ihr. Trotzdem war sie so wunderschön, so lebendig. Alleine ihre Augen verrieten mir eine Tiefe an … Gefühltem, Erlebtem, Erkanntem. Einfach unbeschreiblich.

Wir rannten gleichzeitig aufeinander los, und genau in dem Moment, als ich sie nach so langer Zeit in die Arme schließen wollte - knallte ich gegen etwas Hartes.

Verwirrt blieb ich stehen, dann hatte ich begriffen. Ich fing lauthals an zu lachen und aller Schmerz war vorbei. Die Lektion war verdammt hart, ohja. Aber ich hatte endlich, endlich begriffen. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge raus und fing erneut an zu lachen. Es ging mir so gut wie lange nicht mehr. Plötzlich war ich wieder lebendig, fühlte ich mich ganz. Ich war so von mir getrennt, dass ich mich auf die Suche nach meiner “Schwester” machte. Weil ich gar nicht mehr wusste, dass ich auch anders sein konnte.

Die Frau der Finsternis war neben mich getreten und nahm mich gütig lächelnd in die Arme. “Ich hab dir so viele Zufälle und Möglichkeiten da oben geschickt, aber du hast es nicht einmal bemerkt. Es ging nicht anders. Du wolltest es auf die harte Tour lernen. Den Gefallen habe ich dir getan!” Ich wusste, sie hatte Recht.

“Und der hier?” fragte ich sie mit einem Blick auf den Mann. “Och, wegen dem mach dir keine Sorgen, schick mir einfach einen Ersatz runter. Es ist hier Sitte, sich Geschenke zu machen. Du hast deine “Schwester” bekommen, also schenke du mir am besten deinen Mann. Der ist da oben sowieso gerade damit beschäftigt, dir deine Firma zu klauen!”

Der Vorschlag klang logisch, wie es mich überhaupt daran erinnerte, dass ich da oben ebenfalls noch ein Leben hatte.

Im nächsten Moment fand ich mich wieder auf der Toilette meines Büros. Ich war normal gekleidet, hatte weder Verletzungen noch Schmerzen, noch irgend etwas, das auf meine Erlebnisse hindeutete. Dass die Zeit dort unten anders lief, hatte die Dunkle Frau mir erklärt - und trotzdem war alles genau so geschehen. Ich schuldete ihr etwas und war bereit, meine Schulden zu zahlen.

Meinen Mann wird vermutlich dasselbe Schicksal ereilen wie demjenigen, der mir begegnet war. Und das ist gut so. Ich hatte ihn gefeuert und die halbe Chefetage dazu. Als mir mein Finanzberater empfahl, den Auftrag der Waffengesellschaft anzunehmen, habe ich ihn auch entlassen. Die Firma wird gerade völlig umstrukturiert und jede einzelne Mitarbeiterin hat eine Stimme zu sagen, was sie gerne arbeiten würde. Männer gibt es kaum noch, denn die können mit dem “Durcheinander, dass hier neuerdings herrscht” nichts anfangen. Doch wir Weiber fühlen uns sauwohl.

Zauberweib, 03/2004

Das ist die Adaption des Inanna-Mythos, wie ich ihn verstanden habe. Im Original ist Inanna auf der Suche nach ihrer Schwester Ereschkigal. Inanna muss etliches an Qualen erleiden und darf sie am Ende aus der Unterwelt mit nach oben nehmen, wenn sie dafür ihren Sohn-Gatten hinabschickt. Hier also wieder die alte Geschichte des “Der König ist tot, es lebe der König!” Dabei wird gern vergessen, dass es die Frau - die Souveränität des Landes - ist, die den Mann zum König macht. Daher hab ich mich entschlossen, in meiner “Übersetzung” nicht zimperlich zu sein. Wie ich überhaupt finde, dass der Mythos (immer noch) gut auf die Frau an sich passt. Nach wie vor werden wir zu Gehorsam erzogen, wird uns jede Wildheit ausgetrieben und erst dadurch werden wir schwach, schutz- und hilflos. Ausgeliefert! Und doch können wir es jederzeit ändern, wenn wir es nur wollen. Wir müssen uns nur auf die Suche nach unseren Schatten machen, nach all den Eigenschaften, die wir verdrängt und abgespalten haben.

Klar hat die Frau in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. In der Männerwelt. Das ist das Problem. Wir sind in die Männerwelt eingedrungen, doch noch immer nicht haben wir begonnen, uns wieder eine Frauenwelt aufzubauen. Was ist nur los mit uns? Aufwachen, Schwestern, es gibt jede Menge zu tun! Geht in den Keller, auf den Dachboden - wo immer ihr eure Schatten versteckt habt, und holt sie hervor. Schaut sie euch an und scheut nicht den Schmerz, denn genau das bringt euch die Stärke, die Eigen-Macht zurück. Schmiedet eure Waffen und seit zur Stelle:

  • Wann immer eine Frau misshandelt wird
  • Wann immer eine Frau gedemütigt wird
  • Wann immer eine Frau Angst hat
  • Wann immer eine Frau ihr Licht unter den Scheffel stellt

soll eine Schwester nicht alleine sein. Die Solidarität ist unsere stärkste Waffe. Deshalb schau nicht weg, sondern misch dich ein. Schrei so laut du kannst. Eine Schwester greift man nicht ungestraft an!